Buzzword des Monats Januar 2018: Digitalisierung

von Jonas Bisschop

Buzzword des Monats im Januar 2018 ist der Begriff DigitalisierungDigitalisierung, die
– Nomen, Femininum
Entwicklungs-/Übertragungsprozess vom Analogen ins Digitale

Willkommen im neuen Jahr! Alles neu macht … die Digitalisierung. Zumindest konnte man in den vergangenen Jahren Politik, Mittelstand, Konzernen und Medien dabei zusehen, wie sie sich diese Idee gegenseitig erklärten – und Arbeitsbedarf attestierten.

Auch bekannt als „digitale Revolution“ (➔ Matrix) oder „digitale Transformation“ (➔ Power Rangers), bezeichnet die Digitalisierung wie (1) Sachen von Papier auf .pdf überführt werden oder (2) das Internet die Welt verändert. Weniger pathetisch, dafür etwas holprig drückt es das Wirtschaftslexikon aus:

„Er [der Begriff Digitalisierung, Anm. d. A.] kann die digitale Umwandlung und Darstellung bzw. Durchführung von Information und Kommunikation oder die digitale Modifikation von Instrumenten, Geräten und Fahrzeugen ebenso meinen wie die digitale Revolution, die auch als dritte Revolution bekannt ist, bzw. die digitale Wende.“ – Wirtschaftslexikon

Back to the Future

Ein kleiner Rückgriff: Nachdem das Internet die ersten Jahrzehnte seiner Geschichte eher was für Geeks, Forscher und Militärs war, beglückte der damalige Chef der Deutschen Telekom seine Zeit mit diesem legendären Zitat:

„Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.“ – Ron Sommer, Chef der Deutschen Telekom, 1990

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Wie sich inzwischen herausgestellt hat, lag er damit ein bisschen daneben: Das Internet ist keine Spielerei mehr, sondern Neuland – als solches bezeichnete es zumindest Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2013. Die Telekom unterdessen verzeichnet rückläufige Gewinne im Telefonie-Geschäft und einen Rekord bei neu verlegten Glaßfaser-Anschlüssen.

Heiligsprechung durch Digitalisierungsgurus

Im Jahr 2018 trägt praktisch jeder Mensch einen internetfähigen Hochleistungscomputer mit Kamera, Mikro, Gyroskop und mehr in der Tasche. Was wir mit uns führen weist wahrscheinlich mehr Speicherplatz und Prozessorleistung auf, als bei der Planung der Apollomissionen zur Verfügung standen – und um die Mondlandung ranken vergleichbar viele Mythen und Verschwörungstheorien wie um die Digitalisierung.

Denn die Chés der digitalen Revolution schreien „INDUSTRIE 4.0“! und rufen prompt ein neues Zeitalter aus. Egal ob für Arbeitnehmer oder -geber, unter den Heilsversprechungen der digitalen Gurus ist für jeden was dabei. Keine Notwendigkeit für Büro und Maloche, dank Computerisierung und Automatisierung – jauchzet, frohlocket! Und gleichzeitig keine Massenarbeitslosigkeit oder dergleichen, schließlich bringt uns die schöne neue Welt viele neue Berufe, die es früher noch nicht gab. Günstigere Massenproduktion, Just-In-Time-Verfahren dank Globalisierung und Vernetzung, Produktionen mit Seriengröße 1 – die Wunder der Zukunft kennen keine Grenzen.

Die Anhänger des Neulandkultes haben sogar ihre eigene Sprache entwickelt:
Die Digitalisierung bringt genügend Fachtermini mit, um unsere Buzzword-Kolumne bis ins Jahr 2020 zu versorgen. VR, Big Data, New Media, Industrie 4.0, Internet der Dinge/Internet of Things, Künstliche Intelligenz, Data Mining – das Vokabular des Glasfaser-Evangeliums nach Bezos, Gates, Jobs, Page und Zuckerberg ist reich an vielen tollen neuen Wörtern, mit denen sich alle Welt die graue Zukunft bunt ausmalt.

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Stellt dir vor, es ist Datenschutz und keiner geht hin

Indessen kann die Transformation ins digitale Zeitalter allerdings nicht nur als blumig-verklärte Zukunftsvision gedeutet werden, sondern auch jeden Datenschutzbeauftragten um seinen Nachtschlaf bringen.

Ein aktuelles Negativbeispiel für die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft zeigt China: Ein sog. Citizen Score (auch Social Credit) wird aus unterschiedlichsten persönlichen Daten ermittelt. Verhält sich der Bürger konform, brav und produktiv, ist der Citizen Score hoch und er erhält Privilegien und Vorteile. Wird eine Untergrenze unterschritten, drohen Sanktionen. Big Data hat also nicht nur das Potential zu aussagelosen Floskel, sondern auch zum Orwell’schen Alptraum.

Beitragsempfehlung: Kulturzeit (13. November 2017, 3Sat | Beitrag ca. 2 min)

Klar, kann man das chinesische System befremdlich finden. Aber wie würde das hier aussehen? Vielleicht bekomme ich in fünf Jahren Abzüge im Bonusprogramm meiner Krankenkasse, wenn ich nachts zu lange auf Netflix rumhänge oder nicht enthusiastisch genug mein Fitness-Studio frequentiere.

Digitalisierung – Made in Germany

Heute hat die Digitalisierung in Deutschland noch ein anderes Gesicht: In den vergangenen Jahren hat die Volkswagen AG eine Software entwickelt, die den Abgasausstoß bei Dieselfahrzeugen verändert, wenn das Auto sich in Laborbedingungen befindet. Durch die Software erschienen die gemessenen Abgaswerte geringer als der Ausstoß von Stickstoffoxiden im tatsächlichen Betrieb. Mittlerweile ist ein Großteil deutscher Automobilhersteller Gegenstand von Ermittlungen im Abgas-Skandal. Böse Zungen könnten behaupten, Deutschland sei führend bei der Digitalisierung – allerdings nur bei Manipulationssoftware.

Zukünftig werden jedoch neben dem Abgasausstoß andere Daten in den Vordergrund rücken: Möchte ich dann, dass eine solche Firma wie VW persönliche Daten (Bewegungsprofile, Musikvorlieben, Daten meiner Handykontakte, meine im Auto geführten Telefonate, die dauerhafte Aufnahme meiner Stimme für Sprachsteuerung etc., Videoüberwachung meines Gesichtes zur Müdigkeitserkennung, Kameraaufnahmen meiner Umgebung durch Rückfahrkameras usw.) bekommt? Und einen Schritt weiter – wie sieht deren Rolle dann beim autonomem Fahren und intelligentem Verkehr aus?

Big Data oder: Der Gott in der Maschine

Wenn in Zukunft Algorithmen unsere Kreditwürdigkeit, unseren Versicherungsschutz und unser körperliches Wohlbefinden bestimmen, sollte man zuvor darüber diskutieren, ob das eigentlich eine gute Idee ist. Und inwiefern unsere Vorstellungen von Gesellschaft und Digitalisierung kompatibel sind. Und falls nicht, welche der beiden angepasst werden soll. Die Digitalisierung bringt eben Fragen mit sich:

  • Daten als Ware: Ist es in Ordnung, wenn Informationen über mich zur Ressource werden? Und wer soll sie wofür benutzen dürfen? Soll eine Firma das Wissen über mich an andere Firmen oder Staaten verkaufen dürfen? Sollten Staaten diese Informationen sammeln oder kaufen dürfen? Soll der Staat Informationen über mich verkaufen oder mit anderen Staaten tauschen dürfen? Wie viel davon werden wir wissen wollen, können und dürfen?
  • Künstliche Intelligenz: Ist künstliche Intelligenz ein Risiko, das zu einer Gefahr werden kann, oder eine Chance? Soll sie eigene Entscheidungen treffen dürfen? Oder soll sie von jemandem kontrolliert werden? Wer soll dieser jemand sein?
  • Digitalisierte Gesellschaft: Soll alles digitalisiert werden? Oder gibt es Dinge, die nicht übertragen werden sollten? Wie wird das entschieden? Egal, ob nun Feder oder Schwert mächtiger sind: Weder das Verschwinden der Handschrift als Kulturtechnik oder der Einsatz von autonomen Waffensystemen im Krieg sind in der Zukunft nicht unwahrscheinlich – und die Digitalisierung wird vieles dazwischen verändern.
  • …….

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Mit der Digitalisierung werden tiefgreifende, gesellschaftliche Veränderungen absehbar. Prognosen über die rein erwerbswirtschaftlichen Folgen einer digitalen Revolution sind uneindeutig: Sie variieren zwischen dem Verlust jedes 2. Jobs (das sind 50 Prozent) bis hin zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere für Hochqualifizierte und einer Verbesserung bei Lebensstandard und -erwartung.

„Aber auch wenn die Digitalisierung in Deutschland mehr – vor allem hochwertige – Jobs schafft, bedeutet Strukturwandel, dass vorübergehend Arbeitsplätze wegfallen und es zu beruflicher Um- und Neuorientierung kommen muss. Somit ist eine rein marktwirtschaftliche Digitalisierung ohne Korrekturen durch den Staat eine große Gefahr.“ – Handelsblatt

Wo es mit der Digitalisierung hingeht – wirtschaftlich, sozial oder menschlich – kann heute noch keiner wissen. Die Art und Weise, wie häufig von Digitalisierung gesprochen wird, lädt zu Dämonisierung oder zur Mystifizierung ein. Beides wird dem Thema nicht gerecht: Mit der Digitalisierung werden sich wahrscheinlich nicht alle Probleme der Welt lösen, noch wird sie wegen ihr untergehen. Zwar zeigen sich bereits erste Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen am Begriff der Digitalisierung. Doch die Zukunft ist eben ein diskussionswürdiges Thema – und die Digitalisierung wird sicherlich eine Rolle dabei spielen.

Zum Abschluss ein schön greifbares, einfaches und beruhigendes Bild davon, wie das Gesicht der Digitalisierung bestimmt nicht aussehen wird (… oder?):

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In der Beitragsreihe „Buzzword des Monats“ setzen sich Mitglieder unseres Vereins mit sprachlichen Phänomenen der Kommunikationsbranche auseinander. Nach Möglichkeit mit einem lachenden und einem weinenden Auge werden Catchphrases und Buzzwords auseinander genommen, um ihren Inhalt zu begutachten. Unser Ziel dabei ist, sprachliche Kreativität und Vielfalt zu promoten. Wir wollen nicht nur schnöden Kulturpessimismus ausleben, sondern dem Talk von PR, Marketing und Co. etwas Spin zu mehr Personality geben.

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